In unserer schnelllebigen, von Erwartungen geprägten Welt scheint Dankbarkeit oft wie ein Wert, der entweder da ist oder eben nicht. Wer nicht dankbar ist, muss doch undankbar sein – so die logische Schlussfolgerung.
Doch das stimmt m. E. nicht. Zwischen Dankbarkeit und Undank existiert ein feiner, allzu oft übersehener Raum, in dem sich viele von uns bewegen.
Der Raum dazwischen
Undankbarkeit ist aktiv. Sie drückt Enttäuschung, Missgunst oder ein Rechtsempfinden aus, zum Beispiel des „nicht genug“ bekommen zu haben. Es ist ein emotionales Defizit, das manchmal sogar Verletzung oder Trotz in sich trägt. Wer undankbar ist, erkennt oft nicht, was er hat – und sieht stattdessen nur das, was fehlt.
Doch das Fehlen von Dankbarkeit bedeutet nicht automatisch, dass jemand undankbar ist. Viele Menschen befinden sich vermutlich schlicht in einem Zustand der Neutralität, des Nicht-Bewusstseins. Sie sehen das Gute nicht aktiv, nicht weil sie es abwerten, sondern weil sie in ihrem Alltag, ihren Sorgen oder ihrem Tun gebunden sind. Weil sie Ängste haben.
Warum wir nicht immer dankbar sein können
Dankbarkeit erfordert Reflexion und Bewusstsein – einen Moment des Innehaltens, der es uns ermöglicht, zu erkennen, was wir haben und was uns gegeben wurde. Dieser Moment fehlt auch manchmal:
In stressigen Zeiten: Wer im Hamsterrad gefangen ist, hat selten die Kapazität, innezuhalten und das Gute bewusst wahrzunehmen.
In emotionalen Krisen: Trauer, Schmerz oder Überforderung machen es schwer, dankbar zu sein. Hier ist Raum für Neutralität, nicht für Undank.
In Momenten der Gewöhnung: Was selbstverständlich wird, tritt in den Hintergrund. Es ist nicht Undankbarkeit, sondern schlicht Gewohnheit, die die Wahrnehmung trübt.
Der Wert der Neutralität
Die Abwesenheit von Dankbarkeit kann also neutral sein. Neutralität ist ein stiller Raum – ein Ort, an dem weder Vorwurf noch Enthusiasmus existieren. Aus dieser Neutralität heraus kann jedoch etwas wachsen: die Erkenntnis, dass wir in der Lage sind, unsere Wahrnehmung zu verändern. Der Übergang von Neutralität zu Dankbarkeit ist oft ein kleiner Schritt – eine Pause, ein bewusstes Hinschauen, ein Moment der Wertschätzung.
Dankbarkeit als bewusste Entscheidung
Dankbarkeit ist letztlich kein Automatismus, sondern eine Entscheidung – ein Akt der Reflexion und der Achtsamkeit. Es ist nichts, was wir erzwingen können, sondern etwas, das sich entwickeln darf. Neutralität ist dabei kein Feind der Dankbarkeit, sondern oft der Ausgangspunkt. Sie zeigt, dass Menschen eben nicht „falsch“ sind, wenn sie gerade nicht dankbar sein können. Sie erinnert daran, dass wir in einem eigenen Tempo wachsen dürfen.
Dankbarkeit und Neutralität schließen sich meines Erachtens nicht aus – sie können vielmehr nebeneinander bestehen wie zwei sanfte Schattierungen auf einer Farbpalette. Es ist möglich, dankbar zu sein, ohne ständig von positiven Gefühlen überflutet zu werden. Neutralität bietet den ruhigen Boden, auf dem Dankbarkeit still und leise existieren darf – ohne Druck, ohne Erwartungen. Manchmal ist sie wie ein sanftes Bewusstsein im Hintergrund: Wir wissen, dass wir Gründe zur Dankbarkeit haben, spüren sie aber nicht immer aktiv. Dieses Nebeneinander erlaubt uns, uns selbst mit Nachsicht zu begegnen – denn Dankbarkeit muss nicht immer laut sein, um da zu sein. Sie kann in der Stille der Neutralität wachsen und sich zeigen, wann immer wir bereit sind, sie wahrzunehmen.
Schlussgedanken
Dankbarkeit und Verärgerung, z.B. über Schicksalsschläge, Krankheit, Enttäuschungen oder unerfüllte Erwartungen dürfen ebenso nebeneinander bestehen. Es ist zutiefst menschlich, zu hadern – mit dem, was uns widerfährt oder was uns fehlt. Dieses Hadern bedeutet nicht, dass wir undankbar sind. Wir können gleichzeitig das Gute in unserem Leben anerkennen und dennoch mit dem ringen, was uns belastet.
Dankbarkeit schließt den Schmerz nicht aus, sondern lässt ihn zu, ohne ihn zu verurteilen. Es ist möglich, das Licht zu sehen und trotzdem die Schatten wahrzunehmen. Diese Ambivalenz macht uns menschlich. Wer hadert, verarbeitet, sucht nach Sinn und versucht, das Leben zu verstehen. In diesem Prozess kann Dankbarkeit wie ein leises Gegengewicht wirken, das uns trotz allem daran erinnert, dass es Momente, Menschen oder Dinge gibt, die uns tragen.
Beides hat seine Berechtigung: das Hadern und die Dankbarkeit. Wir müssen nicht „entweder-oder“ fühlen. Wir dürfen beides – und das ist keine Schwäche, sondern ein Ausdruck innerer Wahrhaftigkeit.
Text & Bild: Katja Peteratzinger; alle Rechte vorbehalten.
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